30. August 2020

INTEGRATION : Im alten Kino Flora macht Roman Sturzenegger Jugendliche ohne Berufsausbildung und Sozialhilfeklienten jeden Alters nicht nur fit für den Arbeitsmarkt – er vermittelt sie auch an Arbeitgeber der Region.

Der Nachhaltigkeitsmarkt im Kulturforum Amriswil stiess auf ein grosses Publikumsinteresse. Auch die Anbieter waren von der Veranstaltung angetan.

Vor dem alten Kino Flora, von links: Stadträtin Daniela Di Nicola, Tamara Sulzberger, Leiterin Soziale Dienste, und Roman Sturzenegger, Programmleiter Basis-Station. (Bild: seh)
Vor dem alten Kino Flora, von links: Stadträtin Daniela Di Nicola, Tamara Sulzberger, Leiterin Soziale Dienste, und Roman Sturzenegger, Programmleiter Basis-Station. (Bild: seh)

Im alten Kino an der Florastrasse ist Anfang August Leben eingekehrt. Die Liegenschaft, die seit vier Jahren von der Stadt Amriswil gemietet wird, ist neu Heimat des Integrationsprogramms Basis-Station. Ein Konzept, das Roman Sturzenegger für Sozialämter lanciert hat und nun für die Stadt Amriswil im Mandat umsetzt. Mit dem Programm soll er Jugendliche ohne Erstausbildung und Sozialhilfeklienten jeden Alters – mit und ohne Migrationshintergrund – zurück in die Privatwirtschaft begleiten. Nicht durch sporadische Einzelcoachings, sondern mit einem wochenfüllenden Modulplan und vielen Arbeitseinsätzen in der Gruppe.

In der Integration von Jugendlichen, Sozialhilfeklienten und Asylsuchenden hat Sturzenegger jahrelange Erfahrung, zumal er bis vor Kurzem für die ORS Integration AG tätig war. «Ich wollte raus aus der Geschäftsleitung und zurück an die Basis, wo ich auf die Menschen eingehen und sie motivieren kann – deshalb habe ich mich selbständig gemacht», sagt Sturzenegger. 

Maximal sechs Monate pro Person
Sein Programm ist auf rund 15 Personen ausgerichtet, die zeitgleich im alten Kino stationiert sind. Teilnehmen darf grundsätzlich jeder, der bei den Sozialen Diensten gelandet ist und zu mindestens 50 Prozent arbeitsfähig ist. «Aber natürlich ziehen wir schon Personen vor, bei denen wir am meisten Potenzial sehen», sagt Tamara Sulzberger, Leiterin der Sozialen Dienste. Gerade im Moment hätten junge Menschen Vorrang, die nach der Oberstufe keine Lehrstelle gefunden oder die Lehre bereits abgebrochen haben.

Sturzeneggers Programm dauert pro Person maximal sechs Monate. «Es kann aber auch sein, dass jemand nur ein, zwei Wochen bei mir ist, weil ich sie oder ihn bereits vermitteln konnte. Ich habe kein Interesse daran, jemanden länger zu behalten als nötig», sagt er.

Verlässt jemand die Basis-Station, rückt ein nächster Klient nach – Ausbildung und Vermittlung beginnen von vorn. Seit Anfang August konnte Sturzenegger schon sieben Leute bei Arbeitgebern der Region unterbringen. Bis es aber soweit ist, vermitteln er und seine drei Teamleiter den Klienten vor allem Grundwerte, die er in der Arbeitswelt, aber auch im Privaten als wegweisend erachtet. Anstand, Respekt, Fleiss, aber auch Offenheit und den Willen, etwas Neues anzupacken, sind dabei an der Spitze. Gelernt wird in gemeinsamen Coachings, vor allem aber in Arbeitseinsätzen in und ums Haus. Roman Sturzenegger hat die Aufgaben in rotierenden Teams verteilt. Manche arbeiten im Garten, andere kümmern sich um die inzwischen weit fortgeschrittene Renovation des Gebäudes, wieder andere sind für den Hausdienst zuständig oder sorgen im Küchenteam für die Verpflegung jener, die gerade Ausseneinsätze leisten, zum Beispiel für den Werkhof Amriswil. «Wichtig ist, dass alle alles ausprobieren. Es gibt weder Frauen- noch Männerarbeit noch Aufgaben, die unter der eigenen Würde liegen», sagt Sturzenegger. Deshalb putzt auch ein Mann ein WC – oder eine Frau schleift die Türrahmen. 

Ernährung hat einen hohen Stellenwert
Drei Personen wohnen derzeit in den oberen Stockwerken des Gebäudes, das von der Stadt schon bis anhin als Notunterkunft genutzt wurde. Geändert hat sich für die temporären Bewohner, dass das Haus nun Regeln führt und durch den internen Hausdienst und Restaurantservice eine Struktur bekommen hat, die geschätzt wird. Vor allem die frisch gekochten Speisen finden Anklang. Ohnehin habe die Ernährung, das Kochen, einen hohen Stellenwert in seinem Programm, sagt der gelernte Gastronom. 

«Die Leute fangen wieder an, ausgewogen zu essen, Gemüse aus dem eigenen Garten zu verarbeiten und nur so viel zu schöpfen, wie es die körperliche Betätigung auch verlangt.» 
Sturzenegger wirkt in seinem Programm aber nicht nur als Coach, der den Klienten helfen will, ihr Selbstbewusstsein zurückzugewinnen, sondern hat zeitgleich die Rolle des Jobvermittlers inne. Dabei kommen ihm hunderte Arbeitgeber-Kontakte zugute, die er über die Jahre gesammelt hat. «Manchmal fühle ich mich wie ein Verkäufer», sagt Sturzenegger. «Ich erzähle dem Arbeitgeber einen Teil der Geschichte des Stellensuchenden und gelange damit an sein Herz. Und bekanntlich basieren 80 Prozent eines Entscheids auf Emotionen.» Sturzenegger ist überzeugt: Der Arbeitsmarkt sei immer bereit, jemanden aufzunehmen, der bisher durch die Maschen gefallen ist – solange es menschlich stimme und die erwähnten Grundwerte eingehalten würden. «Das einzige, was die Wirtschaft nicht will, sind Probleme», ergänzt der 37-Jährige. «Wenn es die gibt, komme ich erneut ins Spiel. Entweder wir können sie gemeinsam lösen, oder ich vermittle dem Betrieb den nächsten Klienten, mit dem es klappen könnte.» 

Vom neuen Projekt versprechen sich sowohl Stadträtin Daniela Di Nicola, Ressort Soziales und Integration, als auch Tamara Sulzberger viel. Gearbeitet hätten gut 40 bis 50 Klienten – rund ein Drittel der Amriswiler Sozialhilfebezüger – zwar schon bis anhin im Sozialbetrieb Dock in Arbon; dort seien sie allerdings jahrelang geblieben, ohne den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu finden. «Jetzt investieren wir deutlich mehr in unsere Klienten, hoffen aber auch, dass sie dadurch rasch eine Stelle finden. Wird jemand vermittelt, ist es für alle ein Gewinn – nicht nur für die Stadt, auch für den Klienten selbst», sagt Daniel Di Nicola. Tamara Sulzberger ergänzt: «Kein Klient kann jetzt behaupten, dass ihm keine Chance geboten würde. Wer bei den Sozialen Diensten landet, wird in Amriswil maximal unterstützt.» 

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